Kurven-ABS MSC von Bosch

      Kurven-ABS MSC von Bosch

      Stabilitätskontrolle für alle
      Ein Motorrad ohne ABS? Heute kaum noch vorstellbar. Ein Auto ohne ESP? Unverkäuflich. Ähnlich wird es sich bei der Stabilitätskontrolle für Motorräder verhalten.

      Für die Bosch-Entwickler ist die Sache klar. Kurven sind das Salz in der Suppe der Motorradfahrer. Aber häufig wird diese Suppe versalzen. Crash, bum, bang – und schon liegen Mann und Maschine nicht mehr in der Kurve, sondern in der Ecke. „46 Prozent aller Motorradunfälle passieren in Kurven“, weiß man beim schwäbischen Zuliefer-Giganten. Und überraschte im Herbst vergangenen Jahres in Zusammenarbeit mit KTM mit der ersten Stabilitätskontrolle für Motorräder, kurz MSC (Motorcycle Stability Control). Mit der, so Bosch, ließen sich 67 Prozent dieser Kurvenunfälle verhindern.

      Das ist mal eine Ansage, und wer – wie MOTORRAD in Heft 4/2014 – nachprüft, kommt zu dem Ergebnis, dass es stimmen könnte. Und zwar insbesondere dann, wenn der Albtraum aller Biker eintritt: zügig ins Eck, vielleicht plötzlich auftretende Nässe oder ein Hindernis – und dann vor Schreck bei ordentlich Schräglage richtig in die Bremse gehackt. Das war es dann – in den meisten Fällen.

      Kurven-ABS MSC von Bosch ohne spezielle Hardware
      Aber nicht mit dem MSC, das die Bremskraft dem Tempo, der gefahrenen Schräglage und dem aktuell anliegenden Schlupf der Räder anpasst und dank der Teilintegralbremse derKTM 1190 Adventure sogar geschickt zwischen Vorder- und Hinterrad verteilt. Der Clou an der Sache ist: Das alles ist ohne spezielle Hardware möglich, wenn Rad- und Schräglagen­sensoren an Bord sind. So wie im Fall der 1190er-­Adventure, wo nur durch Aufspielen der Software auch 2013er-Modelle mit MSC nachgerüstet werden können.

      So einfach ist das. Im Prinzip auch für andere Hersteller, denn KTM hat sich keineswegs die exklusiven Rechte an der Bosch-Technologie gesichert. Im Gegenteil: Bosch befinde sich mit vielen Herstellern im Gespräch (siehe Interview), das Entwicklungsteam in Yokohama ist quasi vor der Haustür der großen japanischen Hersteller stationiert. Nicht zuletzt, um vor Ort entsprechende Kontakte zu knüpfen und eine weitere Bedingung für die flächendeckende Verbreitung von MSC zu gewährleisten, nämlich große Stückzahlen. Erst durch die werden neue Technologien, die zuerst in hochpreisigen Fahrzeugen angeboten werden, für den Massenmarkt attraktiv. Das war beim ABS so, und es wird beim MSC nicht anders sein, auch wenn man da wegen der fehlenden Verbundbremse von einem abgespeckten System ausgehen muss.

      Natürlich weiß man bei Bosch, dass auch andere Zulieferer wie Nissin mit anderen Motorradherstellern an derartigen oder ähnlichen Systemen arbeiten, und zwar mit Hochdruck. Wann die so weit sein werden, ist bislang noch nicht bekannt. Ebenso wenig wie der Zeitpunkt, zu dem BMW – normalerweise Vorreiter in Sachen Sicherheitstechnologie und alter Bosch-Kunde – mit einem entsprechenden Angebot am Markt sein wird. Aber kommen wird es. Ganz sicher.

      „Die von Bosch entwickelte Stabilitätskontrolle hat sicherlich Bewegung in den Markt gebracht“, schreibt der englische MOTORRAD-Mitarbeiter Ben Purvis – und liefert den Beweis gleich mit. Es sind Fotos, auf denen zwei Triumph Tiger 800 mit mächtigen Sturzpollern oder aufwendig verkabelten Bremsanlagen unterwegs sind.

      Für die einen – nämlich die traditionellen Bosch-Kunden wie BMW, Ducati oder Kawasaki – ist die Sache eigentlich einfach. Bosch anrufen, Termin abmachen, loslegen. „Wenn wir von einem komplexen System, also einem System mit Traktionskontrolle sprechen, dann sollte man ein gutes Jahr für die Applika­tion veranschlagen,“ erklärt Bosch-Mann Yildirim. Bei weniger aufwendigen Systemen könne es auch schneller gehen. Für die anderen ist die Angelegenheit etwas schwieriger.

      Triumph zum Beispiel ist traditionell mit dem japanischen Hersteller Nissin verbandelt, der wiederum fest in Honda-Hand ist. Dass man dort auf die Bosch-Offensive reagieren muss, ist klar. Daher verwundern die Erlkönig-Fotos kaum, und auch offiziell machen die Briten kein Geheimnis daraus, dass sowohl die Stabilitätskontrolle als auch das aktive Fahrwerk ganz oben auf der Prioritätenliste stehen. „Wer das Thema nicht auf der Agenda hat, hat etwas nicht verstanden“, gibt Triumph Deutschland- Pressesprecher Uli Bonsels offen zu.

      Dr. Fevzi Yildirim (47) leitet den Bereich Zweiradsicherheit bei Bosch. Er arbeitet und entwickelt mit seinem Team seit Jahren im japanischen Yokohama.

      Herr Yildirim, als Verantwortlicher für Bosch-Zweiradsicherheit arbeiten Sie nicht in Deutschland, sondern in Yokohama. Warum?

      Weil die japanischen Hersteller Motorräder auf allen relevanten Märkten der Weltanbieten, und das in großen Stückzahlen. Zweitens sind die Japaner zwar nicht in allen, aber in sehr vielen Bereichen Technik-Trendsetter. Und drittens war man in Japan schon immer gut darin, Dinge so kompakt wie möglich zu gestalten – eine Kernkompetenz für erfolgreiche Motorradprodukte. Das hat uns dazu bewogen, das Center of Competence für Motorradsicherheit in Japan zu gründen. Aber natürlich entwickeln auch Kollegen rund um den Globus mit. Das MSC ist kein japanisches, sondern in erster Linie ein Bosch-Produkt.

      Aber das MSC – oder Kurven-ABS, wie wir es intern nennen – würden Sie gerne in vielen japanischen Motorrädern sehen, oder?

      Lassen Sie mich kurz einen technischen Aspekt erwähnen: MSC ist in unserem Verständnis ein systemischer Ansatz, der bereits bestehende Systeme im Motorrad intelligent verbindet. Es ist ein ähnlicher Meilenstein wie ABS vor gut 20 Jahren in der Motorradwelt. Heute ist es vergleichbar mit dem ESP im Automobilbereich. MSC macht das Motorradfahren in allen Fahrsituationen sicherer und dynamischer. Beim Beschleunigen und beim Bremsen, beim Geradeausfahren und jetzt erstmals auch in Kurven, also in Schräglage.

      Es ist also Ihre Hoffnung, dass dieses komplexe System nicht nur in teuren Oberklasse­modellen zum Einsatz kommt, sondern sich ähnlich wie das ABS oder das ESP im Auto flächendeckend durchsetzen wird?

      Ja, und zwar hoffentlich rasch und in allen Motorrad-Segmenten.

      Das erste Motorrad mit MSC ist die KTM 1190 Adventure. Was muss denn ein anderer Hersteller tun, wenn er das MSC in seinen Motorrädern anbieten will?

      Uns kontaktieren. Wir sind aber bereits in Diskussionen mit nahezu allen Herstellern. Wir haben unserem Pilotkunden KTM keine Exklusivität versprochen, weil das bei so einem kleinen Markt nicht geht. Wir sind jederzeit bereit, für verschiedenste Motorräder MSC zu applizieren.

      Mit wem reden Sie zurzeit?

      Sie werden verstehen, dass wir unsere Kundennamen nicht nennen dürfen. Wir reden sowohl mit europäischen als auch mit japanischen und ameri­kanischen Kunden über MSC-Systeme oder MSC-Teilfunktionen.

      Das Stichwort Teilfunktionen führt zur nächsten Frage. Was muss ein Motorrad an Hardware mitbringen, um MSC applizieren zu können?

      Es muss ein Bosch-ABS-System an Bord sein, dazu die Radsensoren, und wir brauchen die Sensorbox, um den Fahrzeugzustand zu messen. Das ist es schon. Es ist nicht möglich, ein Softwaremodul an einen Motorradhersteller zu liefern, der ein ABS-Hydraulikaggregat von einem unserer Wettbewerber hat.

      Ist eine Verbundbremse erforderlich?

      Bei dem Pilotkunden haben wir ein Teilintegral-Bremssystem appliziert, wir können aber auch vollintegrale Systeme bestücken. Weitere Überlegungen sind in der Entwicklung.

      Geht das konkreter? Wir reden doch hier über Japan und über Stückzahlen und damit über Motorräder mit herkömmlichem Bremssystem?

      Wir arbeiten natürlich daran, MSC-Teilfunktionen mit einem Standard-ABS umzusetzen. Einedynamische, kurvenabhängige Bremskraftverteilung benötigt aber weiter ein Verbundbremssystem. Andere Teilfunktionen, mit denen wir einfach die Bremskraft oder dieTraktionskontrolle in der Kurve kontrollieren, lassen sich aber bereits mit normalen Zweikanalsystemen realisieren.

      Quelle: motorradonline.de/news/kurven-…i-yildirim/547812?seite=3

      ABS und Stabilitätskontrolle fürs Motorrad

      ABS und Stabilitätskontrolle fürs Motorrad
      Wie schon seit längerem bei Autos, macht sich aktuell auch bei Motorrädern immer mehr Sicherheitstechnik breit. Neben dem immer populäreren ABS kann neuerdings auch die Stabilitätskontrolle MSC viele Motorradunfälle verhindern.

      Sicherheitstechnik setzt sich auch bei Motorrädern durch. Sinkende Preise sorgen dafür, dass sich zum Beispiel das Antiblockiersystem ABS auch bei jenen kleineren Hubraumklassen weiter ausbreitet, wo es bisher selbst als aufpreispflichtiges Extra zu teuer erschien. Den ermutigenden Rückgang der tödlichen Motorradunfälle zwischen 2008 und 2013 um 13 Prozent führen Experten auch auf die zunehmende Verbreitung von ABS zurück. Und aus den Zahlen der deutschen Unfalldatenbank GIDAS folgert Gerhard Steiger, Vorsitzender von Bosch Chassis System Control: "ABS kann ein Viertel aller Motorradunfälle mit Toten und Verletzten verhindern."

      Noch mehr Sicherheit als pures ABS könnte in naher Zukunft die Motorrad-Stabilitätskontrolle MSC bringen, das Gegenstück zu ESP beim Auto. Das von Bosch entwickelte System misst die aktuelle Schräglage und beeinflusst dementsprechend ABS und Traktionskontrolle. Wirksam ist es vor allem in Kurven, wo fast jeder zweite tödliche Motorradunfall seinen Ausgang nimmt. Als Weltneuheit ging MSC Ende 2013 erstmals in den Modellen 1190 Adventure und Adventure R von KTM in Serie. Es basiert auf einem ABS mit Verbundbremsfunktion mit zusätzlichem Schräglagensensor. So kann das System Eingriffe beim Bremsen und Beschleunigen an die jeweilige Schräglage anpassen. MSC erfasst auch Nickrate und Längsbeschleunigung und bremst dadurch abhebende Vorder- und Hinterräder wirksam ab. Auswertungen der Unfalldatenbank GIDAS belegen, dass die Stabilitätskontrolle für Motorräder zwei Drittel aller selbst verschuldeten Bike-Unfälle in Kurven positiv beeinflussen kann.

      Noch vor einer allmählichen Ausbreitung von MSC kann ein steigender Ausrüstungsgrad bei Motorrädern mit ABS für deutlich mehr Sicherheit sorgen. 2017 kommt die ABS-Pflicht für neuzugelassene Motorräder über 125 ccm, ein Jahr zuvor für komplett neue Baureihen (Typzulassung). 2013 liefen erst 30 Prozent aller neuen Motorräder in Europa mit ABS vom Band. Damit sich ABS schon vor der Pflicht schneller ausbreiten kann, bietet Bosch zum Beispiel mit "ABS 9 light" eine besonders kostengünstige Lösung, die über einen hydraulischen Bremskanal das Vorderrad regelt. Diese abgespeckte ABS-Variante ist laut Hersteller vor allem für aufstrebende Märkte wie Indien geeignet. Es folgen "ABS 9 base" (Vorder- und Hinterrad) und "ABS 9 plus" für besonders leistungsstarke Maschinen mit sehr frühen und schnellen Eingriffen.

      Am höchsten entwickelt ist schließlich "ABS 9 enhanced": Hierbei sorgt das sogenannte "electronic Combined Brake System" (eCBS) dafür, dass sich bereits bei Betätigung nur einer von beiden Bremsen die jeweils andere automatisch zuschaltet. Dadurch kann an Vorder- und Hinterrad die bestmögliche Bremskraft wirken.

      Wenn 2017 die ABS-Ausrüstungspflicht für alle Motorräder über 125 ccm kommt, reicht für Maschinen mit maximal 125 ccm alternativ zu ABS auch ein kombiniertes Bremssystem (auch CBS genannt), das beim Betätigen einer Bremse das andere Rad mit bremst. Das Blockieren der Räder wird dank solcher Systeme zwar weniger wahrscheinlich, verhindern können sie es allerdings nicht.